Virtuelle Ausstellung
Der Kindermord von Chozum - Deutsche Soldaten im Abgrund
Die Ausstellung wirft ein Schlaglicht auf die alltägliche Dimension des deutschen Vernichtungskriegs im Osten.
Anschreiben des Ia, des mit Führung und Ausbildung betrauten 1. Generalstabsoffiziers des Artillerie-Regiments 156, vom 10. November 1941 zu einem Bericht des Kommandeurs der I. Abteilung des Regiments an die vorgesetzte 56. Infanterie-Division, unterschrieben vom Regiments-Kommandeur Oberst Wilhelm Strecker. Gemäß Eingangsstempel des Divisionskommandos ist das Schreiben am 10. November eingegangen, wurde auf den Ia der Division ausgezeichnet und von diesem mit seiner Paraphe abgezeichnet. Auf dem Anschreiben befindet sich unten und auf der Rückseite ein handschriftlicher Vermerk des Divisions-Kommandeurs, Generalmajor Karl von Oven, ebenfalls vom 10. November 1941. Oven wünscht eine Ergänzung des (nicht überlieferten) ersten Berichts dahingehend, dass die Zahl der Erschossenen nach Männern, Frauen und Kindern differenziert und die Erschießung der Frauen und Kinder klar als notwendig dargestellt wird.
Transkription des Vermerks (Vorderseite):
"56. Infanterie-Division 10.11.1941
Ich bitte, den Bericht der I. Abteilung noch dahingehend ergänzen zu lassen, wieviel Einwohner auf Befehl des Oberleutnants"
[Fortsetzung siehe Rückseite]
Die Rückseite des Anschreibens vom 10. November mit der Fortsetzung des Vermerks von Generalmajor v. Oven.
Transkription des Vermerks (Rückseite):
Eilemann erschossen wurden und zwar getrennt Zahl der Männer, Frauen, Kinder. Ferner ist die Erschießung der Frauen und Kinder so zu begründen, daß die Notwendigkeit dieser Maßnahme ganz klar zum Ausdruck kommt. Nach der mündlichen Darstellung, die Hauptmann Friedmann und Oberleutnant Eilemann mir kurz nach dem 24.10. gaben, mußten die Kinder mit erschossen werden, weil durch die Strafmaßnahme das ganze Dorf entvölkert wurde. Nach der Skizze scheinen aber nur die Bewohner der Nordhälfte des Dorfes erschossen worden zu sein.
von Oven
An den Herrn Kommandeur des Artillerie-Regiments"
Die erwähnte Skizze ist, wie der erste Bericht insgesamt, nicht überliefert.
Das Problem, das Oven hier andeutet, besteht darin, dass nach der Skizze der Eindruck hätte entstehen können, dass die Erschießung der Kinder unnötig war, da ja noch die Bewohner der Südhälfte des Dorfes als mögliche Betreuer der Kinder vorhanden gewesen wären.
Dem Anschreiben vom 10. November folgt das spätere Anschreiben vom 19. November 1941 zum überarbeiteten (zweiten) Bericht des Kommandeurs der I. Abteilung des Regiments, unterschrieben wieder vom Regiments-Kommandeur Oberst Wilhelm Strecker.
Gemäß Eingangsstempel des Kommandos der 56. Infanterie-Division ist das Schreiben am selben Tag, dem 19. November, dort eingegangen. Es wurde wieder zunächst auf den Ia der Division ausgezeichnet, von diesem (allerdings von anderer Hand) mit Paraphe abgezeichnet und schließlich auf den Divisions-Kommandeur verfügt.
Bericht der I. Abteilung des Artillerie-Regiments 156 vom 15. November 1941, unterzeichnet von Hauptmann Theodor Friedmann, dem Kommandeur der I. Abteilung. Die entscheidende Passage wurde rot eingerahmt. Auf diese Einrahmung bezieht sich ein handschriftlicher Vermerk des Divisions-Kommandeurs Generalmajor v. Oven vom 22. November 1941. Oven stellt darin fest, dass er die Erschießungen billigt und dies auch schon kurz nach dem 24. Oktober sowohl dem Abteilungs-Kommandeur (Hauptmann Friedmann) als auch dem "Befehlshaber der Maßnahmen" Oberleutnant Paul Eilemann in Gegenwart des Regiments-Kommandeurs (Oberst Strecker) mitgeteilt habe.
1. Seite
[Vermerk siehe Rückseite]
Bericht der I. Abteilung des Artillerie-Regiments 156 vom 15. November 1941, unterzeichnet von Hauptmann Theodor Friedmann, dem Kommandeur der I. Abteilung. Die entscheidende Passage wurde rot eingerahmt. Auf diese Einrahmung bezieht sich ein handschriftlicher Vermerk des Divisions-Kommandeurs Generalmajor v. Oven vom 22. November 1941. Oven stellt darin fest, dass er die Erschießungen billigt und dies auch schon kurz nach dem 24. Oktober sowohl dem Abteilungs-Kommandeur (Hauptmann Friedmann) als auch dem "Befehlshaber der Maßnahmen" Oberleutnant Paul Eilemann in Gegenwart des Regiments-Kommandeurs (Oberst Strecker) mitgeteilt habe.
2. Seite
Transkription des Vermerks:
"Ich billige das Verhalten der I. Abteilung, des Befehlshabers der Maßnahmen Eilemann, wie ich es kurz nach dem 24.10. schon mündlich dem Abteilungs-Kommandeur und dem Oberleutnant Eilemann in Gegenwart des Regiments-Kommandeurs in Belyje Berega mitgeteilt habe.
von Oven 22.11."
General d. Inf. Karl von Oven – Foto aus einem Dossier des Heerespersonalamtes
Bei General v. Oven handelt es sich um einen hochdekorierten Offizier, einen „Ritterkreuzträger“. Als solcher wird er von vielen Menschen (nicht nur in Deutschland) als Beispiel für zeitlose soldatische Tugenden angesehen. Voraussetzung für die Verleihung des Eisernen Kreuzes in all seinen Abstufungen waren gemäß der Verordnung über die Erneuerung des Eisernen Kreuzes vom 1. September 1939 „besondere Tapferkeit vor dem Feinde“ oder „hervorragende Verdienste in der Truppenführung“. Gerade das Beispiel Ovens zeigt jedoch, dass Beispielhaftigkeit sich nicht an einzelnen Auszeichnungen festmachen lässt, mögen sie auch nach den jeweiligen Statuten begründet gewesen sein. General v. Oven wurde wegen Tapferkeit ausgezeichnet, aber er hieß auch die Ermordung von sechzig Kindern gut.
General d. Inf. Karl von Oven
geb. 29.11.1888 Berlin, gest. 20.1.1974 Siegen
Infanterie-Offizier im Ersten Weltkrieg; 1919-1935 im Polizeidienst; 1940-1943 Kommandeur der 56. Infanterie-Division; im Januar 1942 mit dem Ritterkreuz des Eisernen Kreuzes ausgezeichnet; überlebte den Krieg und starb mit 85 Jahren.
27.2.1908 Eintritt in die Preußische Armee; 3. Grenadier-Regiment zu Fuß
27.1.1909 Leutnant
24.12.1914 Oberleutnant
16.2.1916 Kompanieführer
5.10.1916 Hauptmann
16.12.1916 Generalkommando III. Armeekorps
17.5.1917 Oberkommando 1. Armee
8.6.1917 Stab 34. Infanterie-Division
21.10.1917 Oberkommando 9. Armee
15.9.1918 Oberkommando Armeeabteilung C
14.11.1918 Generalkommando XXXI. Armeekorps
28.11.1918 3. Grenadier-Regiment zu Fuß
10.1.1919 Grenzbrigade Hirschberg
25.2.1919 9. Infanterie-Division
2.11.1919 Wechsel zur Sicherheitspolizei Friedrichshain; Hundertschaftsführer
14.3.1935 Oberst der Landespolizei
15.3.1935 Übertritt zum Reichsheer als Oberstleutnant; Infanterie-Regiment Potsdam
15.4.1935 Kommandeur des II. Bataillons des Infanterie-Regiments Paderborn, ab 15.10. Infanterie-Regiment 18
1.10.1935 Oberst
6.10.1936 Leiter der Heereszeugverwaltung XI
18.1.1937 Infanterie-Regiment 59
1.2.1937 Infanterie-Regiment 82
1.3.1937 Infanterie-Regiment 73
1.5.1937 Kommandeur des Infanterie-Regiments 73
12.10.1937 Kommandeur des Infanterie-Regiments 59
1.6.1939 Generalmajor
10.11.1939 Inspekteur des Wehrersatzbezirks Allenstein
30.5.1940 Kommandeur der 393. Infanterie-Division
1.8.1940 Kommandant der Oberfeldkommandantur 393 Warschau
15.10.1940 Führerreserve
16.11.1940 Kommandeur der 56. Infanterie-Division
1.7.1941 Generalleutnant
9.1.1942 Ritterkreuz des Eisernen Kreuzes
28.1.1943 mit der Führung des XXXXIII. Armeekorps beauftragt
1.4.1943 Kommandierender General des XXXXIII. Armeekorps
1.4.1943 General der Infanterie
25.3.1944 Führerreserve
22.4.1944 Befehlshaber des Feldjäger-Kommandos (mot.) II
5.2.1945 Führerreserve
Beurteilung v. Ovens vom 5.2.1943 durch den Kommandierenden General des XXXV. Armeekorps mit der Formulierung: „[…] […] wird, wo es die Lage erfordert, auch hart sein können; […] […] Durchdrungen von der nationalsozialistischen Weltanschauung, die er auch vertritt“.
Während in Personalakten Formulierungen, die die nationalsozialistische Gesinnung eines Offiziers feststellen, nicht überbewertet werden dürfen, da es sich hier um beförderungsrelevante Standardformulierungen handelt, die sich so auch in den Personalakten späterer Widerstandskämpfer finden, stellt der Hinweis auf die „Härte“ v. Ovens sicherlich eine echte Charakterisierung durch v. Ovens Vorgesetzten dar.
Generalmajor Wilhelm Strecker – Foto aus der Personalakte
Auch bei Generalmajor Strecker handelt es sich um einen hochdekorierten Offizier. Gemäß Stiftungserlaß für das Deutsche Kreuz vom 28.9.1941 waren Voraussetzung für die Verleihung des Deutschen Kreuzes in Silber „vielfache außergewöhnliche Verdienste in der militärischen Kriegführung“ und in Gold „vielfach bewiesene außergewöhnliche Tapferkeit“ oder „vielfache hervorragende Verdienste in der Truppenführung“. Wie im Falle v. Ovens gilt auch bei Strecker, dass Beispielhaftigkeit sich nicht an einzelnen Auszeichnungen festmachen lässt, mögen sie auch nach den jeweiligen Statuten begründet gewesen sein.
Generalmajor Wilhelm Strecker
geb. 13.12.1890 Wiener Neustadt, gest. 1955 Mödling
Artillerie-Offizier im Ersten Weltkrieg; 1940-1943 Kommandeur des Artillerie-Regiments 156; im Januar und Februar 1942 kurz nacheinander wegen Tapferkeit mit dem Deutschen Kreuz in Silber und in Gold ausgezeichnet; überlebte den Krieg und starb mit 65 Jahren.
1.9.1907 Eintritt in die k.u.k. Armee; Artilleriekadettenschule Traiskirchen
18.8.1911 Fähnrich
19.8.1911 Feldkanonen-Regiment 6
1.11.1913 Leutnant
1.5.1915 Oberleutnant
1.7.1917 Batterieführer
20.11.1918 Ersatzbatterie
13.9.1919 Adjutant bei der österreichischen Personalevidenz des Feldartillerie-Regiments 25
6.9.1920 Übernahme in das österreichische Heer
30.9.1920 Batterie-Kommandant im selbständigen Artillerie-Regiment Wiener Neustadt
1.1.1921 Hauptmann
1.6.1924 Stabshauptmann
20.7.1928 Major
1.1.1933 Kommandant der Feldhaubitzbatterie 2 des selbständigen Artillerie-Regiments
1.9.1934 Kommandant der C-Akademikerkompanie an der Theresianischen Militärakademie
13.3.1938 Übernahme in die Wehrmacht
23.4.1938 Lehrer für Artillerie-Waffenlehre und Reitlehrer an der Kriegsschule
10.11.1938 Stab des Artillerie-Regiments 14
20.4.1939 Oberstleutnant
26.8.1939 III. Abteilung des Artillerie-Regiments 156
22.10.1940 mit der Führung des Artillerie-Regiments 156 beauftragt
12.11.1940 Kommandeur des Artillerie-Regiments 156
17.1.1941 Oberst
29.1.1942 Deutsches Kreuz in Silber
12.2.1942 Deutsches Kreuz in Gold
27.3.1943 Artillerie-Kommandeur 122
6.11.1944 mit der Wahrnehmung der Geschäfte des Höheren Artillerie-Kommandeurs 317 beauftragt
3.1.1945 Höherer Artillerie-Kommandeur 317
30.1.1945 Generalmajor
Hauptmann Theodor Friedmann – Foto aus der Personalakte
Auch bei Hauptmann Friedmann handelt es sich um einen wegen Tapferkeit hochdekorierten Offizier. Im Unterschied zu v. Oven und Strecker war Friedmann bereits vor dem Massaker von Chozum mit dem Ritterkreuz des Eisernen Kreuzes und kurz danach mit dem Deutschen Kreuz in Gold ausgezeichnet worden. Er kann im zeitgenössischen Sinne als „idealer Offizier“ angesehen werden und wurde so auch von der Propaganda dargestellt.
Hauptmann Theodor Friedmann
geb. 20.9.1903 Fürth, gest. 10.1.1942 Kriegslazarett 3/60, Roslawl
Artillerie-Offizier; Zeitsoldat in der Reichswehr; 1940-1941 Kommandeur der I. Abteilung des Artillerie-Regiments 156; 1940 und 1941 wegen Tapferkeit mit dem Ritterkreuz des Eisernen Kreuzes und dem Deutschen Kreuz in Gold ausgezeichnet; im Januar 1942 schwer verwundet und im Lazarett verstorben. In der Todesanzeige im „Völkischen Beobachter“ als „Vorbild für die deutsche Artillerie“ bezeichnet.
1.4.1922 Eintritt in die Reichswehr als Kanonier; Artillerie-Regiment 7
1.4.1924 Oberkanonier
1.11.1925 Gefreiter
1.8.1927 Unteroffizier
1.8.1929 Oberzahlmeister
31.3.1934 Entlassung nach 12-jähriger Dienstzeit
1.7.1935 Oberleutnant d. R.; Einstellung in die Wehrmacht, Artillerie-Regiment Nürnberg
1.11.1936 Oberleutnant; Batterieführer im Artillerie-Regiment 60
1.10.1938 Hauptmann
10.11.1938 Artillerie-Regiment 40
1.3.1940 Artillerie-Regiment 156; Kommandeur der I. Abteilung
27.8.1940 Ritterkreuz des Eisernen Kreuzes
30.11.1941 Deutsches Kreuz in Gold
8.2.1942 Major (mit Wirkung vom 1.1.1942)
Fernschreiben des IIa, des für die Personalangelegenheiten der Offiziere zuständigen Generalstabsoffiziers, der 56. Infanterie-Division, an das Heerespersonalamt über den Tod Friedmanns, aus der Fürsorgeakte des Heerespersonalamtes zu Friedmann. Im Falle des Todes von Ritterkreuzträgern griffen besondere Fürsorgebestimmungen zugunsten der Hinterbliebenen.
Hauptmann Paul Eilemann - Karteikarte der Kriegsreserveoffizierskartei
Hauptmann Eilemann war der Befehlshaber vor Ort, er befahl die Erschießung der Kinder. Eine Personalakte des Reichsnährstandes aus dem Jahr 1936 (BArch R 16/6238) enthält seinen Lebenslauf. In diesem Jahr bewarb er sich als Angehöriger der Reichswehr um eine Anstellung im Zivildienst. Sein Dienstleistungszeugnis nennt ihn „energisch und zielbewußt“, aber auch „treu und schlicht“. Sein Vorgesetzter bescheinigt ihm zudem „unermüdlichen Pflichteifer“. Da Eilemann seine Bewerbung in der Folge nicht mehr erneuerte, wurde er 1938 aus der Liste für Versorgungsanwärter gestrichen. Er verblieb in der Wehrmacht, wo ihm der Aufstieg zum Offizier gelang.
Hauptmann Paul Eilemann
geb. 13.1.1905 Baalberge b. Bernburg, Todesdatum unbekannt
Artillerie-Offizier; aus dem Unteroffiziersstand aufgestiegen; ab Januar 1942 Führer der I. Abteilung des Artillerie-Regiments 156; weiteres Schicksal bisher unbekannt.
1.7.1924 Reichswehr; Artillerie-Regiment 4
1.4.1930 Unteroffizier
1.4.1933 Wachtmeister
1.10.1934 Artillerie-Regiment Halberstadt
15.10.1935 Artillerie-Regiment 59
30.6.1936 Artillerie-Regiment 14
1.10.1938 Leutnant d. R.
1.8.1939 Oberleutnant d. R.
spätestens Sept. 1941 Artillerie-Regiment 156
Jan. 1942 mit der Führung der I. Abteilung des Artillerie-Regiments 156 beauftragt
1.6.1942 Hauptmann d. R.
Hintergrundinformationen
Hintergrundinformationen
Am 22. Juni 1941 begann der deutsche Überfall auf die Sowjetunion. Dieser "Vernichtungskrieg" gegen das "jüdisch-bolschewistische Untermenschentum", wie ihn Hitler selbst nannte, wurde seitens der Wehrmacht vom ersten Tag an mit großer Härte und Unbarmherzigkeit geführt. Rechtsgrundlage für die über weite Strecken Tradition und Kriegsrecht zuwiderlaufende Kriegführung der Wehrmacht waren u.a. die im Vorfeld erlassenen "verbrecherischen Befehle", zuvorderst der "Kriegsgerichtsbarkeitserlass", der "Kommissarbefehl" und die "Richtlinien für das Verhalten der Truppe in Russland" [ein separater Beitrag zu diesen Befehlen ist in Vorbereitung]. Durch die Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD, aber auch durch Brigaden der Waffen-SS wurden bereits im Laufe des Jahres 1941 im Rücken der Front Juden, politische Funktionsträger und Partisanen (die oft nur versprengte Soldaten waren) zu Hunderttausenden erschossen, erhängt oder auf andere Art ums Leben gebracht.
Pauschale Aussagen über ein Sozialgebilde wie die Wehrmacht, der im Laufe ihres Bestehens über 17 Mio. Menschen angehörten, sind in der Regel schwierig, mitunter auch Unfug. Dass die Wehrmacht als Organisation wesentlicher Teil eines verbrecherischen Unrechtsregimes war und dass ihr Vordringen auf fremdes Gebiet und schließlich ihr Ausharren an den Fronten den Raum für zuvor undenkbare Verbrechen schufen, kann jedoch nicht geleugnet werden, es ist ernsthaft nicht einmal diskutabel. Dass von der Führung der Wehrmacht wie auch ihrer Teile Heer, Luftwaffe und Kriegsmarine verbrecherische Befehle erlassen und ihre Befolgung durchgesetzt wurde, ist hinlänglich nachgewiesen; die entsprechenden Quellen im Bundesarchiv sind für jeden offen zugänglich. Dass einzelne Dienststellen und Einheiten und die in ihnen tätigen Soldaten darüber hinaus Verbrechen begingen, ist ebenfalls bekannt und vielfach erwiesen - und kann dennoch nicht dazu führen, alle Angehörigen der Wehrmacht mit denjenigen ihrer Kameraden gleichzusetzen, die zu Verbrechern in Uniform wurden. Die deutsche Herrschaft, ausgeübt u.a. durch die Wehrmacht, forderte über die Jahre unter den unter völlig unzureichenden Bedingungen internierten sowjetischen Kriegsgefangenen, im Rahmen des Partisanenkrieges (der häufig nur der Verschleierung von rassistisch motivierten Vernichtungsaktionen diente) oder im Zuge der rücksichtslosen ökonomischen Ausplünderung der besetzten Gebiete der Sowjetunion millionenfache Opfer. Dennoch bleiben die reinen Zahlen und Befunde abstrakt und für das konkrete Erfahren nur schwer greifbar. Das ändert sich, wenn die Verbrechen in der Schilderung eines amtlichen Berichtes in aller Deutlichkeit vor einen treten.
Ein Beispiel ist der Kindermord von Chozum (so die damalige deutsche Schreibweise; heute "Khatsun", ca. 20 km südöstlich von Brjansk) im November 1941. In den Anlagen des Kriegstagebuchs der 56. Infanterie-Division (Signatur BArch RH 26-56/21b) überliefern eine Handvoll Dokumente ein schweres Verbrechen – geradezu "nebenbei" begangen und als bedauerliche Notwendigkeit dargestellt. Es handelt sich um eine Episode im jahrelangen, ebenso brutalen wie letztlich erfolglosen Bestreben der Wehrmacht, sich im Raum Brjansk durchzusetzen.
Im November 1941 befand sich das deutsche Ostheer und mit ihm die 56. Infanterie-Division im Vormarsch durch Russland. Die Rote Armee wehrte sich hart und verbissen und – selbst unter massivem militärischen und politischen Druck stehend - stellenweise mit allen Mitteln. Den deutschen Soldaten fehlte in aller Regel jedes Verständnis dafür, dass für den in seinem eigenen Land Überfallenen in der Verteidigung gegen den Angreifer andere moralische Maßstäbe gelten als für den unmotiviert Eindringenden, den der Verteidiger nur als Räuber und Mörder ansehen konnte. Zivilisten, die sich an der Verteidigung ihrer Heimat beteiligten, wurden von deutschen Soldaten als "Banditen" verfolgt und getötet – auch solche, von denen dies nur vermutet wurde. Die deutschen Soldaten fühlten sich im Recht, bestärkt und ermuntert durch die eigene Propaganda. Hinzu kamen die oben bereits benannten, im Vorfeld des Ostfeldzuges und in der Folgezeit erlassenen Befehle, die bewusst einen rechtsfreien Raum schufen und die deutschen Soldaten von traditionellen Verhaltensregeln entbanden. Ein weiteres Element dürfte ein auch unter Wehrmachtsangehörigen weit verbreitetes kulturelles und zivilisatorisches Überlegenheitsgefühl gegenüber der sowjetischen Zivilbevölkerung gewesen sein, von dem aus der Weg zur rücksichtslosen Unterdrückung jeglichen Widerstands des „Untermenschentums“ nicht weit war. Die Radikalisierung des Verhaltens der deutschen Soldaten erfolgte jedoch weder plötzlich bis ins Extrem, noch allumfassend. Es war offensichtlich ein Prozess, der sich an unterschiedlichen Stellen, bei unterschiedlichen Einheiten und Soldaten, unterschiedlich schnell und intensiv auswirkte.
Zur 56. Infanterie-Division gehörte das Artillerie-Regiment 156. Am 24. Oktober 1941 hatte die I. Abteilung dieses Regiments den Auftrag, den eigenen Unterkunftsbereich nach gegnerischen Soldaten und/oder Partisanen abzusuchen. Dabei wurde ein Spähtrupp der Abteilung in einem Dorf in ein Gefecht mit sowjetischen Soldaten und einigen Zivilisten verwickelt. Von den fünf Soldaten des Spähtrupps kamen nur zwei wieder zurück. Am nächsten Tag sandte die Abteilung 120 Mann in drei Trupps aus, um das Schicksal der drei vermissten Soldaten zu klären, das Dorf zu durchsuchen und "sämtliche Personen" zu erschießen. Der Auftrag wurde erfüllt. Die drei Soldaten wurden tot aufgefunden – in der Darstellung des entsprechenden Berichts "ermordet" und eben nicht "gefallen". Die aus Sicht der deutschen Soldaten verantwortlichen Dorfbewohner wurden festgenommen. Die Erwachsenen wurden ohne Prüfung im Einzelfall insgesamt erschossen - 128 Personen. Ohne Zweifel ein Kriegsverbrechen. Da man die Kinder der Erschossenen "sich nicht selbst überlassen" wollte, wie das im entsprechenden Bericht genannt wurde - wurden kurz darauf auch diese erschossen: 60 Kinder, die meisten zwischen zwei und zehn Jahren alt.
In dem hier vorgestellten Fall handelt sich um ein zufällig ausführlich überliefertes Beispiel, nur eines von mehreren tausend von deutschen Soldaten oder Polizisten in ähnlicher Art und Weise vernichteten Dörfern. Es wirft ein Schlaglicht auf die alltägliche Dimension des deutschen Vernichtungskrieges im Osten.
Bemerkenswert an diesem konkreten Fall der Auslöschung eines ganzen Dorfes durch das Artillerie-Regiment 156 und die ausnahmslose Erschießung von Männern, Frauen und Kindern als "Sühnemaßnahme" in einer ungleichen Auseinandersetzung ist weniger die Kälte der Täter als vielmehr der frühe Zeitpunkt im Herbst 1941. Nach den bisherigen Erkenntnissen war die Wehrmacht erst im Rahmen der Verschärfung des Partisanenkriegs im Laufe des Jahres 1942 zu dieser Praxis übergegangen. Die unterschiedslose Ermordung von Männern, Frauen und Kindern war jedoch bei den "Judenaktionen" der Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD sowie der Brigaden der Waffen-SS bereits ab Spätsommer 1941 üblich. Ob die Angehörigen des Artillerie-Regiments 156 lediglich diesem Beispiel folgten oder diese Radikalisierung aus eigenem Antrieb vollzogen, bleibt unklar. So oder so steht das Artillerie-Regiment 156 mit dem Verbrechen von Chozum am Anfang eines Prozesses der partiellen Verhaltensangleichung des Heeres an Waffen-SS und Einsatzgruppen.
Seit 2011 erinnert in Khatsun eine Gedenkstätte ("Memorial Komplex") an dieses Massaker und auch an viele andere vergleichbare Verbrechen, die in dieser Region von Deutschen begangen wurden.
Thomas Menzel
mit bestem Dank für Rat, Kritik und Mitwirken an Peter Gohle
Literaturauswahl
- Cüppers, Martin: Wegbereiter der Shoah. Die Waffen-SS, der Kommandostab Reichsführer-SS und die Judenvernichtung 1939–1945. Darmstadt 2005
- Gerlach, Christian: Kalkulierte Morde. Die deutsche Wirtschafts- und Vernichtungspolitik in Weißrußland 1941 bis 1944. Hamburg 1999
- Hartmann, Christian, Hürter, Johannes, Lieb, Peter und Pohl, Dieter (Hrsg.): Der deutsche Krieg im Osten 1941–1944. Facetten einer Grenzüberschreitung. München 2009
- Hartmann, Christian: Wehrmacht im Ostkrieg. Front und militärisches Hinterland 1941/42. München 2009
- Klein, Peter (Hrsg.): Die Einsatzgruppen in der besetzten Sowjetunion 1941/42. Die Tätigkeits- und Lageberichte des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD. Berlin 1997
- Müller, Rolf-Dieter und Volkmann, Erich (Hrsg.): Die Wehrmacht. Mythos und Realität. München 1999
- Pohl, Dieter: Die Herrschaft der Wehrmacht. Deutsche Militärbesatzung und einheimische Bevölkerung in der Sowjetunion 1941–1944. München 2008
- Pohl, Karl Heinrich (Hrsg.): Wehrmacht und Vernichtungspolitik. Militär im nationalsozialistischen System. Göttingen 1999
- Römer, Felix: Der Kommissarbefehl. Wehrmacht und NS-Verbrechen an der Ostfront 1941/42. Paderborn 2008
- Schulte, Jan Erik, Lieb, Peter und Wegner, Bernd (Hrsg.): Die Waffen-SS. Neue Forschungen. Paderborn 2014
- Streit, Christian: Keine Kameraden. Die Wehrmacht und die sowjetischen Kriegsgefangenen 1941–1945. Bonn 1997
- Wegner, Bernd: Hitlers politische Soldaten: die Waffen-SS 1933-1945. Leitbild, Struktur und Funktion einer nationalsozialistischen Elite. Paderborn 1982